ARYA SVIT-KONA
Eragon und
seine Gefährten folgten dem Âz Ragni, bis dieser sich mit dem Fluss
Edda vereinte und in den unbekannten Osten weiterfloss. Bald darauf
erreichten sie Hedarth, einen Handelsposten der Zwerge, wo sie die
Flöße gegen Esel eintauschten. Pferde wären zu groß für die Zwerge
gewesen.
Arya weigerte sich, das ihr angebotene Tier
zu reiten. »Ich kehre doch nicht auf einem Eselsrücken in das Land
meiner Vorfahren zurück!«
Thorv runzelte die Stirn. »Wie willst du
dann mit uns Schritt halten?«
»Ich renne.«
Und wie sie rannte! Schneller als
Schneefeuer und die Esel, auf die sie stets am nächsten Hügel oder
Wäldchen wartete. Als sie am Abend ihr Lager aufschlugen, zeigte
sie trotz ihrer Anstrengungen weder Zeichen von Müdigkeit noch war
sie geneigt, zwischen Frühstück und Abendbrot mehr als ein paar
Worte zu sagen. Sie schien mit jedem Schritt angespannter zu
werden.
Sie zogen von Hedarth nach Norden, folgten
dem Lauf des Edda in Richtung seines Ursprungs, dem See
Eldor.
Nach drei Tagen kam Du Weldenvarden in
Sicht. Anfangs war der Wald bloß eine verschwommene Wand am
Horizont, dann verwandelte er sich alsbald in ein smaragdgrünes
Meer aus Eichen, Buchen und Ahornbäumen. Von Saphiras Rücken aus
sah Eragon, dass er sich ohne Unterbrechung vom westlichen bis zum
östlichen Horizont erstreckte, und er wusste, dass er sich noch
weit darüber hinaus ausdehnte, über die gesamte Breite Alagaësias
hinweg.
Für ihn sahen die Schatten unter dem dichten
Blätterdach geheimnisvoll und verlockend aus, aber auch gefährlich,
denn dort lebten die Elfen. Irgendwo verborgen im schattigen Herzen
von Du Weldenvarden lagen Ellesméra - wo er seine Ausbildung
abschließen würde -, Osilon und andere Elfenstädte, die seit dem
Fall der Drachenreiter nur wenige Fremde besucht hatten. Der Wald
war ein gefährlicher Ort für Sterbliche, das spürte Eragon.
Bestimmt erwarteten ihn dort die abenteuerlichsten Erlebnisse und
noch abenteuerlichere Wesen.
Es ist wie in einer
anderen Welt, dachte er bei sich. Zwei Schmetterlinge
kamen in tänzelndem Flug aus dem Wald geflattert.
Hoffentlich habe ich
zwischen den Bäumen genug Platz, sagte
Saphira. Ich kann doch nicht die ganze
Zeit fliegen.
Die Elfen haben sich in
der Zeit der Reiter bestimmt etwas ausgedacht, um Drachen
beherbergen zu können.
Hmmm.
Als Eragon am Abend in sein Zelt gehen
wollte, tauchte plötzlich Arya wie aus dem Nichts neben ihm auf.
Ihr lautloses Erscheinen ließ ihn zusammenschrecken. Ihm war noch
immer nicht klar, wie sie sich so leise bewegen konnte. Bevor er
fragen konnte, was sie wollte, suchte ihr Geist den
seinen: Folge mir, so leise du
kannst!
Die geistige Berührung überraschte ihn
genauso wie die Aufforderung, ihr zu folgen. Während des Flugs nach
Farthen Dûr hatten sie auf diese Weise ihre Gedanken ausgetauscht -
wegen ihres selbst ausgelösten Komas hatte für Eragon keine andere
Möglichkeit bestanden, mit ihr zu reden -, aber seit Aryas Genesung
hatte er nicht mehr versucht, ihren Geist zu berühren. Es war eine
zutiefst persönliche Erfahrung. Wenn man in das Bewusstsein einer
anderen Person eindrang, war es so, als würde sich ein Teil der
nackten Seele an der anderen reiben. Es war flegelhaft und
unschicklich, unaufgefordert ein so privates Zusammentreffen zu
initiieren, und er hätte es als Vertrauensbruch gegenüber Arya
empfunden, einfach so ihren Geist zu berühren. Außerdem hatte
Eragon Angst, bei einer solchen Verbindung seine neuen,
rätselhaften Gefühle für Arya zu offenbaren, und er beabsichtigte
nicht, sich dadurch lächerlich zu machen.
Er folgte ihr, während sie zwischen den
Zelten hindurchschlüpfte und lautlos an Tríhga vorbeischlich, der
die erste Wache übernommen hatte. Sie gingen weiter, bis sie außer
Hörweite der Zwerge waren. In seinem Geist passte Saphira ganz
genau auf, was geschah, jederzeit bereit, ihm nötigenfalls zu Hilfe
zu eilen.
Arya setzte sich auf einen moosüberwucherten
Baumstamm und schlang, ohne ihn anzusehen, die Arme um die Knie.
»Du musst einiges lernen, bevor wir Ceris und Ellesméra erreichen,
damit du nicht dich selbst oder mich durch deine Unwissenheit
blamierst.«
»Was denn zum Beispiel?« Neugierig hockte er
sich ihr gegenüber auf den Boden.
Arya zögerte. »Während meiner Jahre als
Islanzadis Botschafterin habe ich festgestellt, dass Menschen und
Zwerge sich sehr ähnlich sind. Ihr teilt viele Überzeugungen und
Leidenschaften. Nicht wenige Menschen haben lange unter den Zwergen
gelebt, eben weil sie deren Kultur verstehen und weil es umgekehrt
genauso ist. Menschen und Zwerge lieben, empfinden Lust, hassen,
streiten und erschaffen auf ganz ähnliche Weise ihre kulturellen
Güter. Deine Freundschaft mit Orik und dein Eintritt in den
Dûrgrimst Ingietum belegen dies.« Eragon nickte, obwohl er die
Unterschiede zwischen Menschen und Zwergen als viel größer empfand.
»Elfen hingegen sind ganz anders als andere Völker.«
»Du sprichst so, als wärst du keine Elfe«,
nahm er ihre Bemerkung in Farthen Dûr auf.
»Ich habe lange genug unter den Varden
gelebt, um an ihre Bräuche gewöhnt zu sein«, entgegnete Arya
spitz.
»Ach so... Dann willst du also sagen, dass
die Elfen nicht die gleichen Emotionen haben wie Menschen und
Zwerge? Das kann ich kaum glauben. Alle Lebewesen haben die
gleichen Grundbedürfnisse und Wünsche.«
»Das war es nicht, was ich sagen
wollte!«
Eragon zuckte zusammen und musterte sie
stirnrunzelnd. Ihr schroffer Ton war ungewöhnlich. Arya schloss die
Augen, legte die Finger an die Schläfen und atmete tief durch.
»Wegen unserer langen Lebensspanne betrachten wir Höflichkeit als
die höchste soziale Tugend. Man kann es sich nicht leisten,
jemanden zu beleidigen, wenn ein Streit Jahrzehnte oder gar
Jahrhunderte andauern kann. Nur indem man höflich miteinander
umgeht, kann man verhindern, dass sich Feindseligkeiten aufstauen
und irgendwann zu offenen Konflikten führen. Es gelingt nicht
immer, aber wir halten uns streng an unsere Rituale, denn sie
schützen uns vor Maßlosigkeit. Außerdem sind Elfen nicht sehr
fruchtbar, deshalb ist es lebenswichtig, Unfrieden in den eigenen
Reihen zu vermeiden. Gäbe es bei uns genauso viele Verbrechen wie
bei euch oder den Zwergen, wären wir längst ausgestorben.
Hör nun gut zu. Die Wachposten in Ceris
musst du auf bestimmte Weise grüßen, du musst bestimmte
Verhaltensregeln befolgen, wenn du vor Königin Islanzadi trittst,
und es gilt, hundert verschiedene Dinge zu beachten, wenn du die
Elfen ansprichst, obwohl es vielleicht manchmal besser wäre,
einfach nichts zu sagen.«
»Mir scheint«, wagte Eragon zu entgegnen,
»dass eure Bräuche dazu führen, dass man die Leute eher leichter
beleidigen kann.«
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »Mag
sein. Du weißt genauso gut wie ich, dass man dich nach den höchsten
Maßstäben beurteilen wird. Wenn dir ein Fehler unterläuft, werden
die Elfen denken, es war Absicht. Unangenehm wird es erst, wenn sie
herausfinden, dass du den Fehler aus Unwissenheit begangen hast. Es
ist besser, wenn man dich für unhöflich, aber fähig hält als für
unhöflich undunfähig, denn sonst
riskierst du, dass man versucht, dich zu manipulieren wie die
Schlange im Runenspiel. Unsere Politik findet in langen, subtilen
Zyklen statt. Was ein Elf heute sagt oder tut, könnte bloß ein
Manöver in einer jahrtausendealten Strategie sein und hat womöglich
nichts mit dem zu tun, was er am nächsten Tag von sich gibt. Es ist
ein Spiel, bei dem wir alle mitwirken, obwohl es die wenigsten
beherrschen, und du bist im Begriff, in dieses Spiel
einzugreifen.
Jetzt verstehst du vielleicht, warum ich
behaupte, dass die Elfen anders sind als andere Völker. Auch die
Zwerge leben sehr lange, aber sie sind fruchtbarer als wir und
teilen nicht unsere Zurückhaltung und unsere Vorliebe für Kabalen.
Und die Menschen …« Sie ließ ihre Stimme taktvoll verklingen.
»Die Menschen versuchen, das Beste aus dem
zu machen, was ihnen gegeben ist.«
»Wie du meinst.«
»Warum erzählst du all diese Dinge nicht
auch Orik? Er wird doch auch eine Weile in Ellesméra
bleiben.«
Ein harter Unterton schlich sich in Aryas
Stimme. »Er ist mit unserer Etikette halbwegs vertraut. Aber du als
Drachenreiter tätest gut daran, dich gebildeter als der Zwerg zu
präsentieren.«
Eragon nahm ihre Zurechtweisung
widerspruchslos hin. »Was muss ich alles lernen?«
Arya begann, Eragon und durch ihn auch
Saphira die Umgangsformen der Elfengesellschaft beizubringen. Als
Erstes erklärte sie, dass bei einer Begegnung zweier Elfen beide
stehen bleiben und mit zwei Fingerspitzen ihre Lippen berühren, um
zu sagen: »Wir werden bei unserem Gespräch bei der Wahrheit
bleiben.« Dann folgte der Satz »Atra Esterní
ono thelduin«, auf den man
»Un du Evarínya ono varda« antwortete.
»Und wenn man besonders höflich sein möchte«, sagte Arya, »dann
fügt man noch einen dritten Satz hinzu: Mor’ranr lífa unin Hjarta onr, was bedeutet:
›Mögest du Frieden im Herzen tragen.‹ Diese Zeilen wurden von einem
Drachen übernommen, der sie zur Besiegelung unseres Paktes
aufgesagt hat. Sie lauten:
Atra Esterní ono
thelduin,
Mor’ranr lífa unin Hjarta onr,
Un du Evarínya ono varda.
Mor’ranr lífa unin Hjarta onr,
Un du Evarínya ono varda.
Oder: ›Möge das Glück dir hold sein, mögest
du Frieden im Herzen tragen und mögen die Sterne über dich
wachen.‹«
»Und wer sagt es als Erster?«
»Wenn man jemandem von höherem Rang begegnet
oder wenn man einen Untertanen besonders ehren möchte, ergreift man
zuerst das Wort. Bei jemandem von niedrigerem Rang lässt man den
anderen beginnen. Wenn man sich seiner Position nicht sicher ist,
gibt man seinem Gegenüber die Gelegenheit, als Erster zu sprechen,
und wenn er schweigt, ergreift man selbst das Wort. So lautet die
Regel.«
Gilt für mich
dasselbe?, fragte Saphira.
Arya hob ein trockenes Blatt vom Boden auf
und zerbröselte es zwischen den Fingern. Hinter ihnen verschmolz
das Lager mit der Dunkelheit, als die Zwerge das Feuer
herunterbrennen ließen, damit das Holz bis zum Morgen weiterglühen
würde. »Als Drache steht in unserer Kultur niemand über dir. Selbst
die Königin kann dir nichts befehlen. Du kannst tun und sagen, was
dir beliebt. Wir erwarten nicht, dass ein Drache unsere Gesetze
befolgt.«
Als Nächstes zeigte sie Eragon, wie er die
rechte Hand drehen und mit einer leicht ausholenden Geste zur Brust
führen musste. »Das tust du«, sagte sie, »wenn du vor Islanzadi
trittst. Damit offerierst du ihr Loyalität und Gehorsam.«
»Ist es bindend, so wie mein Gelübde auf
Nasuada?«
»Nein, es ist bloß eine Höflichkeit, und
zwar eine kleine.«
Eragon versuchte, sich all die verschiedenen
Anreden zu merken, die Arya ihm beibrachte. Die Art der Begrüßung
hing davon ab, ob es Mann oder Frau war, Kind oder Erwachsener,
Junge oder Mädchen, ebenso unterschied man nach Stellung und
Ansehen. Es war eine ellenlange Liste, doch Eragon hatte begriffen,
dass er jedes einzelne Wort lernen musste.
Als er sich, so gut es eben ging, alles
eingeprägt hatte, erhob sich Arya und klopfte den Schmutz von den
Händen. »Solange du die Sätze im Kopf behältst, kann nichts
passieren.« Sie wandte sich um und wollte gehen.
»Warte«, sagte Eragon. Er griff nach ihr, um
sie festzuhalten, zog aber rasch die Hand zurück, bevor sie die
Vermessenheit bemerkte. Sie schaute aus ihren düsteren Augen
fragend über die Schulter, und sein Magen verkrampfte sich, während
er nach Worten rang, mit denen er seinen Gedanken Ausdruck
verleihen konnte. Am Ende sagte er bloß: »Geht es dir gut, Arya?…
Seit wir Hedarth verlassen haben, wirkst du so distanziert und
angespannt.« Als Aryas Gesicht sich in eine steinerne Maske
verwandelte, zuckte er innerlich zusammen und wusste, dass er das
Falsche gesagt hatte, obwohl ihm nicht klar war, warum die Frage
sie derart verärgerte.
»In Du Weldenvarden erwarte ich, dass du
niemals in einer so vertraulichen Art und Weise zu mir sprichst, es
sei denn, du willst einen Skandal verursachen.« Sie stapfte
davon.
Geh ihr
nach!, rief Saphira.
Was?
Wir können es uns nicht
leisten, dass sie wütend auf dich ist. Entschuldige dich bei
ihr!
Sein Stolz hielt ihn davon
ab. Nein, es war ihre Schuld, nicht
meine.
Entschuldige dich bei
ihr, Eragon, sonst werfe ich dir einen Hirschkadaver ins
Zelt! Es war keine leere Drohung.
Wie soll ich das denn
anstellen?
Saphira überlegte kurz, dann sagte sie ihm,
was er tun sollte. Ohne weiteren Widerspruch sprang er auf, rannte
Arya nach und baute sich vor ihr auf, sodass sie stehen bleiben
musste. Sie sah ihn hochmütig an.
Er führte die Fingerspitzen an die Lippen
und sagte: »Arya Svitkona.« Dies war die respektvolle Anrede für
eine Frau von großer Weisheit. »Ich habe töricht gesprochen und
dafür möchte ich dich in aller Demut um Verzeihung bitten. Saphira
und ich waren besorgt um dein Wohlergehen. Nach allem, was du für
uns getan hast, schien es das Mindeste zu sein, was wir für dich
tun können, dein Wohlbefinden sicherzustellen, wenn du es
wünschst.«
Schließlich lenkte Arya ein und sagte: »Ich
weiß deine Sorge zu schätzen. Auch ich habe töricht gesprochen.«
Sie senkte den Blick. In der Dunkelheit wirkten ihre Umrisse starr
vor Anspannung. »Du möchtest wissen, was in mir vorgeht, Eragon? Du
möchtest es wirklich wissen? Dann verrate ich es dir.« Ihre Stimme
war leise wie eine Feder im Wind. »Ich habe Angst.«
Vor Verblüffung brachte Eragon keinen Ton
heraus. Sie trat an ihm vorbei und ließ ihn allein in der Nacht
stehen.